juris PraxisReporte

Autor:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Erscheinungsdatum:23.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 148 ZPO, § 149 ZPO, § 72 ArbGG, § 566 ZPO, § 348 ZPO, § 350 ZPO, § 555 ZPO, § 92 ArbGG, § 93 ArbGG, § 96 ArbGG, § 565 ZPO, § 94 ArbGG
Fundstelle:jurisPR-ArbR 42/2024 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Düwell, jurisPR-ArbR 42/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Auswirkungen des Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof auf die Revision und auf die Rechtsbeschwerde beim Bundesarbeitsgericht

A. Gang der Gesetzgebung

Bereits am 14.06.2023 hat der Bundesminister der Justiz (BMJ) einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof (BGH) veröffentlicht. Ziel der Initiative ist vor allem, Massenverfahren, die in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten eine große Belastung für die Gerichtsbarkeit darstellen, schneller und mit weniger personellen Aufwand zu erledigen.1 Da sich in diesen Verfahren zumeist die gleichen entscheidungserheblichen Rechtsfragen stellen, wird zu diesem Zweck ein neuartiges Leitentscheidungsverfahren in das Revisionsrecht der Zivilprozessordnung (ZPO) eingefügt. Die arbeitsgerichtlichen Verfahrensarten und das Revisionsrecht im sozialgerichtlichen, verwaltungsgerichtlichen sowie im finanzgerichtlichen Verfahren wurden von Anfang an ohne überzeugenden Sachgrund ausgespart, obwohl sich auch in den anderen Fachgerichtsbarkeiten das Problem der prozessökonomischen Bewältigung von Massenverfahren stellt.2 Die Bundesregierung hat am 18.08.2023 den vom BMJ vorgelegten Gesetzesentwurf dem Bundesrat zugeleitet.3 Mit der grundsätzlich zustimmenden Stellungnahme des Bundesrates ist 11.10.2023 der Gesetzentwurf zur weiteren Behandlung in den Bundestag eingebracht worden.4 Nach einer Sachverständigenanhörung hat der Rechtsausschuss des Bundestags am 25.09.2024 eine Beschlussempfehlung erstellt.5 Der Bundestag hat 26.09.2024 in 3. Beratung die Annahme des Entwurfs in der Ausschussfassung beschlossen.6 Der Bundesrat hat auf seiner 1048. Sitzung am 18.10.2024 der Empfehlung des Rechtsausschusses folgend beschlossen, zu dem Gesetz den Vermittlungsausschuss nicht anzurufen.7 Nach Art. 7 gilt: Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft. Mit baldiger Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes ist zu rechnen.

B. Überblick über das Leitentscheidungsverfahren

Das Gesetz zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim BGH ist ein Artikelgesetz. Es besteht aus sieben Artikel. In Art.1 sind die Änderungen in der ZPO enthalten, die der Gesetzgeber zur Einführung der Leitentscheidungsverfahren für erforderlich hält. Auf Empfehlung des Rechtsausschusses ist der in § 148 ZPO des Entwurfs angehängte neue Absatz 4 überarbeitet worden. Mit der geänderten Fassung soll es den Instanzgerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit auch ohne beiderseitige Zustimmung der Parteien ermöglicht werden, solche Verfahren auszusetzen, deren Entscheidung von Rechtsfragen abhängt, die den Gegenstand eines bei dem Revisionsgericht anhängigen Leitentscheidungsverfahrens bilden. Dadurch kann eine nachfolgende Revisions- oder Leitentscheidung bereits in dem zuvor ausgesetzten Verfahren berücksichtigt werden. Insbesondere in sogenannten Massenverfahren soll dies auch zu einer Entlastung der Instanzgerichte beitragen. Nach dem Bericht des Ausschusses sind vor einer möglichen Aussetzung die Parteien zu hören.8 Eine Aussetzung hat danach zu unterbleiben, wenn eine Partei der Aussetzung widerspricht und gewichtige Gründe glaubhaft macht, die einer Aussetzung entgegenstehen. Dies sollen beispielsweise erhebliche wirtschaftliche Gründe sein können. Als Beispiele werden angeführt:

die drohende Insolvenz einer Partei im Fall der Aussetzung oder
persönliche Gründe, wie das hohe Alter einer der Parteien.

Die Dauer der Aussetzung bleibt nach dem Vorbild des § 149 Abs. 2 Satz 1 ZPO zeitlich begrenzt, es sei denn, es sprechen gewichtige Gründe für eine Aufrechterhaltung der Aussetzung einer der Parteien.

Das dem BGH zugewiesene Leitentscheidungsverfahren wird in dem neu eingefügten § 552b ZPO und in dem inhaltlich neugefassten § 565 ZPO geregelt. In § 552b ZPO ist geregelt, dass immer dann, wenn eine Revision Rechtsfragen aufwirft, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist, das Revisionsgericht nach Eingang einer Revisionserwiderung oder nach Ablauf eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung dieses Revisionsverfahren durch Beschluss zum Leitentscheidungsverfahren bestimmen kann. In dem Beschluss muss der BGH den Sachverhalt und die Rechtsfragen darstellen, deren Entscheidung für eine Vielzahl anderer Verfahren von Bedeutung ist. In dem Absatz 1 des neugefassten § 555 ZPO ist bestimmt: „Endet die zum Leitentscheidungsverfahren bestimmte Revision, ohne dass ein mit inhaltlicher Begründung versehenes Urteil ergeht, so trifft das Revisionsgericht durch Beschluss eine Leitentscheidung. Der Beschluss ergeht ohne mündliche Verhandlung.“

Nach Absatz 2 wird in dem Beschluss

1. festgestellt, dass die Revision beendet ist, und

2. eine Leitentscheidung zu den im Beschluss nach § 552b benannten Rechtsfragen getroffen.

Gemäß Absatz 3 hat der BGH den Beschluss zwar zu begründen, aber die „Begründung ist auf die Erwägungen zur Entscheidung der maßgeblichen Rechtsfragen zu beschränken“.

C. Auswirkungen auf das Revisionsrecht beim BAG

In Art. 3 des Gesetzes ist zum Ausschluss des Leitentscheidungsverfahren im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren bestimmt: „In § 72 Absatz 5 des ArbGG …wird die Angabe ‚des § 566‘ durch die Angabe ‚der §§ 552b, 565 und 566‘ ersetzt.“ Damit ist klargestellt, dass die Regelungen über das Leitentscheidungsverfahren beim Revisionsgericht (§§ 552b ZPO neu und § 565 ZPO neu) im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren ebenso – wie bislang schon § 566 ZPO – im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren keine Anwendung finden. Zu beachten ist, dass mit der Neubesetzung des § 565 ZPO durch eine Norm des Leitentscheidungsverfahrens auch das im arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren nach § 72 Abs. 5 ArbGG anzuwendende zivilprozessuale Revisionsrecht geändert worden ist. Die in den bisherigen §§ 555, § 565 ZPO a.F. enthaltenen Regelungen sind in Art. 1 unter der Nr. 4 des Gesetzes am neuen Standort § 555 ZPO zusammengefasst worden. Das ist gut so; denn sie gehören systematisch zusammen. Die neue Fassung des § 555 ZPO lautet:

„(1) Auf das weitere Verfahren sind die im ersten Rechtszug für das Verfahren vor den Landgerichten geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit die Vorschriften dieses Abschnitts nicht Abweichendes regeln.

(2) Einer Güteverhandlung bedarf es nicht.

(3) Die §§ 348 bis 350 sind nicht anzuwenden.

(4) Ein Anerkenntnisurteil ergeht nur auf gesonderten Antrag des Klägers.

(5) Auf die Revision sind folgende für die Berufung geltende Vorschriften entsprechend anzuwenden:

1. Vorschriften über die Anfechtbarkeit der Versäumnisurteile,

2. Vorschriften über die Verzichtsleistung auf das Rechtsmittel und seine Zurücknahme,

3. Vorschriften über die Rügen der Unzulässigkeit der Klage sowie

4. Vorschriften über die Einforderung, Übersendung und Zurücksendung der Prozessakten.

(6) Die Revision kann ohne Einwilligung des Revisionsbeklagten nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung des Revisionsbeklagten zur Hauptsache zurückgenommen werden.“

Bei Absatz 1 handelt es sich um eine redaktionelle Änderung, die für die Zusammenfassung des Inhalts der alten Bestimmungen erforderlich ist. Absatz 2 entspricht § 555 Abs. 1 Satz 2 ZPO a.F. Absatz 3 entspricht § 555 Abs. 2 ZPO a.F. Absatz 4 entspricht § 555 Abs. 3 ZPO a.F. Absatz 5 entspricht § 565 Satz 1 ZPO a.F., dessen Wortlaut jedoch redaktionell angepasst ist. Absatz 6 entspricht § 565 Satz 2 ZPO a.F.

D. Auswirkungen auf die Rechtsbeschwerde beim BAG

Nach § 92 Abs. 2 ArbGG gelten für das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde, das im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren zum BAG führt, die für das arbeitsgerichtliche Revisionsverfahren in Urteilssachen geltenden Vorschriften. Dies gilt jedoch nur, soweit sich aus den §§ 93 bis 96 ArbGG nichts anderes ergibt. In § 94 Abs. 3 Satz 1 ArbGG ist bestimmt, dass die Rechtsbeschwerde jederzeit zurückgenommen werden kann. Damit ist die in dem neugefassten § 565 Abs. 6 ZPO enthaltene Bestimmung, nach der das Rechtmittel ohne Einwilligung des Rechtsmittelgegners nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung des Rechtsmittelgegners zur Hauptsache zurückgenommen werden kann, nicht vereinbar. § 94 Abs. 3 Satz 1 ArbGG ergibt im Sinne von § 92 Abs. 2 Satz 1 ArbGG etwas „anderes“. Folglich ist eine die Befugnis des Rechtsmittelführers zur Rechtsmittelrücknahme einschränkende Bestimmung im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht anwendbar. Daher ist ein Beteiligter auch noch im Laufe der Anhörung vor dem Senat in der Lage, wirksam seine Rechtsbeschwerde zurückzunehmen, sobald er erkennt, dass die abzusehende Entscheidung des Senats für ihn nachteilig sein könnte. Damit können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände durch Rücknahme der Rechtsbeschwerde bis unmittelbar vor Schluss der Anhörung verhindern, dass aus ihrer Sicht für ihr Lager nachteilige höchstrichterliche Entscheidungen im Beschlussverfahren getroffen werden. Auf diese Weise können klärungsbedürftige Rechtsfragen zielgerichtet offengehalten werden.


Fußnoten


1)

Ausführlich Düwell, jurisPR-ArbR 26/2023 Anm. 1.

2)

Zur Kritik: Düwell, Beschleunigung für gerichtliche Massenverfahren: Kein Handlungsbedarf in Arbeitssachen?, BB 2023, 1912, 1913, derselbe, jurisPR-ArbR 26/2023 Anm. 1.

6)

BT-Plenarprotokoll 20/188, S. 24458D-24458D.

8)

Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!