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Anmerkung zu:BGH 6. Zivilsenat, Beschluss vom 12.03.2024 - VI ZR 283/21
Autor:Dr. Alexander Schäfer, Vors. RiLG
Erscheinungsdatum:23.10.2024
Quelle:juris Logo
Normen:§ 544 ZPO, Art 103 GG, § 254 BGB
Fundstelle:jurisPR-VerkR 21/2024 Anm. 1
Herausgeber:Dr. Klaus Schneider, RA, FA für Verkehrsrecht, FA für Versicherungsrecht und Notar
Zitiervorschlag:Schäfer, jurisPR-VerkR 21/2024 Anm. 1 Zitiervorschlag

Frage der Erwerbsfähigkeit im Schadensersatzprozess als medizinische Sachverständigenfrage



Leitsatz

Zur Verletzung rechtlichen Gehörs durch Verzicht auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei der Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage (hier: Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aufgrund gesundheitlicher Beeinträchtigungen).



Orientierungssatz zur Anmerkung

Der Schädiger trägt die Darlegungs- und Beweislast für eine (teilweise) Erwerbsfähigkeit des Geschädigten.



A.
Problemstellung
Im Haftpflichtprozess wird häufig um die Erstattung von Aufwendungen gestritten, die an einen Geschädigten eines Schadensereignisses geflossen sind und deren Erstattung von der vorleistenden Institution vom Schädiger bzw. dessen Versicherer auf der Basis eines gesetzlichen Forderungsübergangs zurückgefordert wird. Aufgrund des gesetzlichen Forderungsübergangs geht der Anspruch nur dergestalt auf den Vorleistenden über, in der er auch in der Person des Geschädigten entstanden ist. Das gilt auch für den Mitverschuldenseinwand nach § 254 Abs. 2 BGB. Gerade wenn Lohnersatzleistungen gezahlt werden (Entgeltfortzahlung durch Arbeitgeber, Krankengeld, Arbeitslosengeld), wird häufig vorgebracht, der Geschädigte sei seiner Schadensminderungspflicht nicht nachgekommen, sprich sein Gesundheitszustand sei weniger gravierend als behauptet und hätte ihm erlaubt, mehr zu arbeiten und folglich weniger (lang) Lohnersatzleistungen zu beziehen. Ob dieser Einwand trägt, entscheiden die Zivilgerichte.
Die vorliegende Entscheidung des für das Deliktsrecht zuständigen VI. Zivilsenats des BGH zeigt, wie weit die Spielräume der Tatgerichte sind, über die Tatsachen aufgrund eigenen Dafürhaltens zu entscheiden.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der unter anderem in MDR 2024, 620 (m. Anm. Laumen) veröffentlichten Entscheidung des BGH im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren (§ 544 Abs. 9 ZPO) lag folgende Sachverhaltskonstellation und Verfahrensgeschichte zugrunde:
Der Geschädigte stand als Feuerwehrmann in einem aktiven Dienstverhältnis zur Klägerin. Er wurde bei einem Verkehrsunfall verletzt, wofür die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers unstreitig dem Grunde nach einstandspflichtig ist. Der Unfall passierte am 01.08.2009. Der Geschädigte erlitt u.a. komplexe Frakturen des rechten Handgelenks und des rechten Unterarms. Er wurde mit Wirkung zum 31.04.2012 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Gegenstand des Verfahrens waren von der Klägerin an den Geschädigten gezahlte Gehälter und Versorgungsbezüge im Zeitraum 01.04.2011 bis 31.12.2016 i.H.v. 123.528,77 Euro abzüglich gezahlter 11.000 Euro. Gemäß § 81 LBG klagte die Klägerin aus übergegangenem Recht auf Erstattung dieser Zahlungen.
Das Landgericht hatte der Klage stattgegeben, das OLG Köln als Berufungsgericht wies die Klage weitgehend ab und erkannte der Klägerin nur einen Betrag von 35.352,81 Euro für den Zeitraum 01.04.2011 bis 31.08.2012 zu. Die weiteren Beträge könnten nicht verlangt werden, weil sich nicht feststellen lasse, ob und in welcher Höhe Ansprüche auf die Klägerin übergangen seien. Insoweit müsse sich die Klägerin den von der Beklagten erhobenen Einwand der Verletzung der Schadensminderungspflicht durch den Geschädigten entgegenhalten lassen, § 254 Abs. 2 BGB. Dieser habe seine Arbeitskraft in zumutbarer Weise zu verwerten und so den Erwerbsschaden mindern müssen. Tue er dies nicht hinreichend, gingen keine Ersatzansprüche auf die Klägerin über bzw. sei sie ihrerseits schon nicht – in voller Höhe – zur Bezügefortzahlung verpflichtet. Zwar sei, so das Berufungsgericht, die Beklagte darlegungs- und beweispflichtig für die Verletzung der Schadensminderungsobliegenheit durch den Geschädigten, den Geschädigten und damit im Rahmen des Anspruchübergangs die Klägerin treffe aber eine sekundäre Darlegungslast, der sie nicht hinreichend nachgekommen sei.
Zu diesem Ergebnis kam das Berufungsgericht, nachdem es sich mit dem Sachvortrag der Klägerin zum Gesundheitszustand des Geschädigten auseinandersetzte, zugleich die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen inhaltlich bewertete und Schlussfolgerungen daraus zog. Dabei bezog es auch unstreitig gebliebene äußere Tatsachen über Tätigkeiten des Geschädigten mit ein, die es für erwerbsrelevant hielt. So erkannte es zwar an, die den ganzen Anspruchszeitraum umfassenden ärztlichen Stellungnahmen sprächen aufgrund der dort benannten psychischen Disposition des Geschädigten dagegen, dass dieser in eine Bürotätigkeit zurückkehren könne, die seiner Ausbildung als Bürokaufmann entspreche. Spätestens ab dem 01.09.2012 habe der Geschädigte aber nach dem Dafürhalten des Berufungsgerichts trotz der als wahr zu unterstellenden psychischen und körperlichen Leiden einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, wofür es als Beispiel eine – unstreitige – geringfügige Tätigkeit des Geschädigten als Betreuer einer Caritas-Wohngruppe, die private Vermietung und Renovierung bzw. Instandhaltung einer Ferienwohnung sowie diverse Tätigkeiten als Fotograf und Naturführer anführt. Insgesamt zeige sich, dass der Geschädigte „fraglos Kapazitäten“ habe, sich um eine Erwerbstätigkeit zu bemühen und eine solche aufzunehmen. Dass sich die Klägerin angesichts dessen auf eine „Erwerbsunfähigkeit“ des Geschädigten berufe, sei unschlüssig, weshalb eine Beweisaufnahme nicht erforderlich sei.
Da die Revision nicht zugelassen wurde, verfolgte der die Dienstherrin ihre Ansprüche im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren weiter.
Der VI. Zivilsenat des BGH hat der Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin stattgegeben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung sei unter Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) der Klägerin zustande gekommen, denn das Berufungsgericht habe eine Sachverständigenfrage aus vermeintlich eigener Sachkunde heraus beantwortet, ohne zum einen eigene Sachkunde ausgewiesen zu haben und ohne, was indes erforderlich wäre, den Parteien einen Hinweis dazu erteilt zu haben, dass es beabsichtige, für eine Sachverständigenfrage eigene Sachkunde in Anspruch zu nehmen (vgl. BGH, Beschl. v. 14.11.2023 - VI ZR 244/21 Rn. 13, 17 f. - MDR 2024, 227; BGH, Beschl. v. 09.04.2019 - VI ZR 377/17 Rn. 9 - VersR 2019, 1033; BGH, Beschl. v. 08.03.2016 - VI ZR 243/14 Rn. 12; BGH, Beschl. v. 13.01.2015 - VI ZR 204/14 Rn. 5 m.w.N. - NJW 2015, 1311).
Zwar habe das Berufungsgericht zu Recht die Pflicht des Geschädigten angeführt, wonach er aus § 254 Abs. 2 BGB gehalten ist, seine verbliebene Arbeitskraft in den Grenzen des Zumutbaren so nutzbringend wie möglich zu verwerten (BGH, Urt. v. 24.01.2023 - VI ZR 152/21 Rn. 11 m.w.N. - VersR 2023, 519 und zust. Anm. Schäfer, jurisPR-VerkR 26/2023 Anm. 4). Die Erwerbsobliegenheit, für deren Erfüllung auch die sekundäre Darlegungslast des Geschädigten bestehe, setze indes Erwerbsfähigkeit voraus. Diese habe der Schädiger darzulegen und zu beweisen. Der Verletzte müsse erst dann im gedanklich nächsten Schritt, also wenn er wieder arbeitsfähig oder teilarbeitsfähig ist, den Schädiger über die für ihn zumutbaren Arbeitsmöglichkeiten und seine Bemühungen um einen angemessenen Arbeitsplatz unterrichten (vgl. BGH, Urt. v. 24.01.2023 - VI ZR 152/21 Rn. 13 - VersR 2023, 519; BGH, Urt. v. 21.09.2021 - VI ZR 91/19 Rn. 21 - VersR 2021, 1583; BGH, Urt. v. 09.10.1990 - VI ZR 291/89 Rn. 16 - VersR 1991, 437, 438; BGH, Urt. v. 23.01.1979 - VI ZR 103/78 Rn. 13 - VersR 1979, 424, 425).
Hier habe die Psychotherapeutin dem Geschädigten aufgrund vorhandener und nicht reversibler psychischer Beeinträchtigung für den Zeitraum von 2012 bis zum 31.12.2016 eine anhaltende Erwerbsunfähigkeit bescheinigt. Zum gleichen Ergebnis komme der Hausarzt. Deren Diagnosen erkenne das Berufungsgericht zwar einerseits an, komme dann aber zu einer abweichenden Beurteilung bei der Frage, ob der Geschädigte erwerbsunfähig sei. Bei dieser Frage handle es sich, so der BGH, aber um eine medizinische Sachverständigenfrage. Bei den Bescheinigungen handle es sich auch nicht um „bloße Behauptungen“ der Klägerin, sondern um qualifizierten Sachvortrag zur Erwerbsfähigkeit des Geschädigten. Für eine eigene Beurteilung hätte das Berufungsgericht demnach eigene Sachkunde haben und in Form eines Hinweises mit Stellungnahmemöglichkeit offenlegen müssen, dass sie sich ihrer bedienen will.
Damit nicht genug. Prozessual trage die Vorgehensweise des Berufungsgerichts nicht. Die Schlüsse des Berufungsgerichts seien auch in sich „nicht nachvollziehbar“. Von einer geringfügigen Tätigkeit auf eine Erwerbsfähigkeit „bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung“ zu schließen, gehe nicht, insbesondere nicht, wenn zugleich der Einwand der Klägerin übergangen werde, der Geschädigte sei auch von dieser unstreitigen Tätigkeit schon überfordert gewesen.
Für den Fall, dass eine erneute Verhandlung das Ergebnis brächte, dass der Geschädigte seiner Erwerbsobliegenheit nicht genüge, hat der BGH noch eine „Segelanweisung“ mit auf den Weg gegeben. Hier könne nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, der erzielbare Erlös sei nicht bezifferbar, mit der Folge, dass der ganze Anspruch zu Fall gebracht werde. Vielmehr seien die erzielbaren fiktiven Einkünfte auf den Verdienstausfallschaden anzurechnen. Auch hier bleibe es bei der Darlegungs- und Beweislast des Schädigers (vgl. BGH, Urt. v. 24.01.2023 - VI ZR 152/21 Rn. 20f. - VersR 2023, 519).


C.
Kontext der Entscheidung
Die Entscheidung schließt sich thematisch an die vom Senat auch in Bezug genommene Entscheidung im Urteil vom 24.01.2023 (VI ZR 152/21) an. Offenbar ist es dem BGH, aus Sicht des Autors zu Recht, ein Bedürfnis, zur Wahrung der Prozessgrundrechte und im Interesse einer tatsächlichen Sachaufklärung, klarzustellen, dass es keine Abkürzung zur Regulierung einer komplexen Schadenssituation gibt, bis hin zur faktischen Unterstellung einer Simulationsvermutung. Zugleich ist auch in Fällen der Verletzung der Erwerbsobliegenheit kein vollständiger Anspruchswegfall die Folge, sondern es sind weitere Anstrengungen zu unternehmen, zu einer realistischen, leidensgerechten fiktiven Einkommensbestimmung zu kommen. Das ist zu begrüßen und konsequent aus dem Schadens- und dem Zivilprozessrecht heraus begründet. Der VI. und andere Zivilsenate haben auch in nachfolgenden Fällen diese – im Grunde lange bekannten – Prinzipen erneut betont (vgl. BGH Beschl. v. 23.07.2024 - VI ZR 41/22; BGH, Beschl. v. 02.07.2024 - VI ZR 240/23; BGH, Beschl. v. 26.03.2024 - VIII ZR 89/23 - DS 2024, 171, 172).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Für die Praxis bedeutet dies, zurückhaltend zu sein mit der vorschnellen Verwerfung von qualifiziertem Parteivortrag zu gesundheitlichen Fragen als unschlüssig. Auch die Darlegungs- und Beweislasten, primäre wie sekundäre, dürfen nicht dadurch vermischt werden, dass man vermeintlich schon das Ergebnis einer eventuell aufwändigen Beweisaufnahme kennt. Dies mag Gegenstand von Vergleichsverhandlungen sein, kann aber kein Urteil stützen. Es ist zu hoffen, dass dies auch unterhalb der Wertschwelle der Nichtzulassungsbeschwerde ernst genommen wird. Widrigenfalls ist auf die Gehörsrüge zurückzugreifen, ggf. auf die Verfassungsbeschwerde.



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